Von Ingeborg Ruthe
In Görlitz in der Oberlausitz wirkte ab 1900 bis 1933 auch eine lebhafte Kunstszene, eng vernetzt mit Berlin, Breslau und Dresden. Daran erinnert nun eine Galerie der Moderne.
Görlitz im Glück? Dieser Tage dürfte die östlichste Stadt Deutschlands mit ihren 55.000 Einwohnern wohl auch die gespannteste sein: Die legendäre „Altstadtmillion“ wird erwartet, so wie Anfang eines jeden neuen Jahres seit 1995. Ein anonymer, sein Geheimnis streng wahrender Stifter überweist seither einen Haufen Geld für die Restaurierung des historischen Stadtkerns des einstigen Oberlausitzer Tuchhandelszentrums – 511.500 Euro. Der Verfall war keiner Kriegszerstörung geschuldet, sondern 40 Jahren DDR. „Ruinen schaffen ohne Waffen“ war damals sarkastische Oberlausitzer Mundart.
Die regelmäßige Zuwendung ist den Häusern-und Straßenzügen, den Plätzen und den meisten der insgesamt 4000 Baudenkmäler aller Stile seit der Gotik bis zum Jugendstil auch anzusehen. Beneidenswerter Bestzustand, der sich über den freundlichen Neißefluss, vorbei an der markanten doppeltürmigen Peter und Paul-Kirche, bis nach Zgorzelec, auf polnischer Seite, zieht.
Görlitz entfaltet seit den Neunzigern Magie: Wohl wegen der historischen Opulenz und der malerischen Lage zieht es pensionierte Kultur-und Bildungsbürger aus dem deutschen Westen an. Die siedeln um. Und die Traumfabrik Hollywood ist zugegen, drehte im Jugendstilkaufhaus als erstes den Oscar-verdächtigen Film „Grand Budapest Hotel“.
Das Oberlausitzer Timbuktu
Fällt der Name Görlitz, bekommen vor allem Leute, die noch nie dort waren, einen schwärmerischen Blick, so als sei die ferne Stadt, in der bei jedem Bäcker der unüberbietbare Kleckerkuchen (Quark mit Mohn) zu haben ist, so etwas wie das Oberlausitzer-Niederschlesische Timbuktu, eine zauberische Oase in tiefster Provinz.Und was gar keiner vermutet, ist – ganz ohne die geheimnisvolle Altstadtmillion zustande gebracht – der jüngste Coup:
Im oberen Umlauf des imposanten Kaisertrutz’, einzige erhaltene Bastion der mittelalterlichen Festungsanlage und seit 2012 Domizil des Kulturhistorischen Museums, gibt es seit Kurzem eine „Galerie der Moderne“. Görlitz, so weitab der großen weiten Welt, war tatsächlich seit der frühen Moderne um 1900 ein kleines, aber wirkungsvolles Kunstzentrum, eng verbunden mit Dresden und Breslau. Deutscher Impressionismus, Expressionismus, Neue Sachlichkeit und Surrealismus hinterließen Spuren – bis in die Nazizeit hinein. Die Randlage war Schutzraum. Und auch nach dem Krieg wirkten hier Maler, Bildhauer, Keramiker im Geiste der Vorkriegsmoderne weiter, unbehelligt vom stalinistischen Kunst-Dogma.
Kai Wenzel, gebürtiger Bautzener, ist Kurator der Moderne-Galerie mit 200 Schätzen der Malerei, Grafik, Plastik, Keramik und Glaskunst – etwa vom Bauhausgestalter Wilhelm Wagenfeld für die Glaswerke Weißwasser nahe Görlitz.
Die meisten Werke gehören der Stadt, der Rest sind Leihgaben. Wenzel hat die Geschichte vieler Werke erforscht und mit dem spektakulärsten Bild der Sammlung beginnt auch der Rundgang: Voller schwarzer Wucht ist Lesser Urys „Jerusalem“ von 1896. Für Martin Buber war es einst das erste künstlerische Manifest, das die Hoffnung auf die Gründung eines Staates Israel ausdrückte.
Ein Görlitzer Industrieller hatte das Bild 1903 in Berlin gekauft und seiner Stadt – die hatte damals noch eine stattliche Jüdische Gemeinde – geschenkt. Bis zum Krieg hing es in der Oberlausitzer Gedenkhalle. Dann war es verschollen. 2002 tauchte es im Kunsthandel auf, wurde dem Jüdischen Museum Berlin angeboten. Die Kollegen, so Kai Wenzel, riefen sofort in Görlitz an, das Bild stand im Lost-Art-Register. Der Berliner Kunstanwalt Peter Raue setzte sich ein; die Stadt klagte auf Rückgabe. Mit Erfolg: 2006 hatte sie es wieder.
Der Rundgang wird zur Zeitreise: Seitlich hängt Robert Sterls „Kartoffelernte“ von 1905. Der Dresdner Impressionist war – es ist nicht zu übersehen – der Lehrer etlicher Görlitzer Maler: Deren Landschaften und Stillleben im herben, derben, erdigen Stil erinnern ein wenig an Courbet. Bei Sterl studierte auch – nur privat, weil Frauen die Akademien verwehrt waren – die Görlitzerin Erna von Dobschütz. Ihre Pastelle sind von Cèzanne inspiriert.
Was kaum verwundert, ist der Einfluss des Brücke-Expressionismus auf die Görlitzer Künstlerszene. In Vitrinen steht die expressive Keramik von Walter Rhaue; er hatte in Breslau studiert, gründete in Görlitz eine Werkstatt für künstlerische Keramik. Da wurde noch bis in die 1950er-Jahre gearbeitet. Der Breslauer Brücke-Maler Otto Müller, „Zigeunermüller“ genannt, lehrte in Dresden. Der Malstil seines Görlitzer Schülers Willi Schmidt erinnert allerdings mehr an Emil Nolde, so melancholisch und fast sakral. „Die Tänzerin im roten Kleid“ und der „Heilige Franziskus“ sind Meisterwerke. Schmidt hatte sich, erzählt Kai Wenzel, auch sehr an den Schriften des mittelalterlichen Görlitzer Mystikers Jakob Böhme orientiert.
Die markanteste Görlitzer Künstlerfigur war zweifellos Johannes Wüsten, als Maler stilistisch balancierend zwischen Grünewald und Dix. Und er war vor allem ein neuzeitlicher Kupferstecher. Die alte, von Dürer zur Meisterschaft getriebene Technik transferierte Wüsten erst ins Expressive, dann in die Bildsprache der Neuen Sachlichkeit. Ein ganzes Kabinett ist dieser Leistung gewidmet. Für Wüsten bot Görlitz ab 1933 keinen Schutz. Er floh via Tschechoslowakei nach Paris, 1941 fiel er der Gestapo in die Hände; noch vor Kriegsende starb er im Zuchthaus Brandenburg an TBC.
Neuzeitlicher Kupferstecher
Unweit der Wüsten-Bilder hängen die magischen Gemälde von Alexander Kanoldt; er lehrte in Berlin, auch in Breslau und war für etliche Görlitzer Maler ein prägendes Vorbild mit seinen neusachlichen, fast in die italienische Pittura Metafisica weisenden Landschaften und Stillleben. Einer seiner Schüler aus der Neißestadt, der Maler Arno Henschel, brachte für sich genau diese Stilistik zur Blüte: Faszinierend ist seine „Dame mit Maske“, 1928. Auch diese Linie der Neuen Sachlichkeit weist ins Surreale, das Bildnis einer „Nonne in Dubrovnik“ aus den 1920er-Jahren, dargestellt in Rückenansicht, ebenso „Interieur mit Spielkarten“ machen einem begreiflich, wieso der Mix aus Neuer Sachlichkeit und Metaphysik in der deutschen Kunst vor 1933 erstens so beliebt und zweitens so eigentümlich zugespitzt und ausgefeilt war.
Henschel wurde übrigens in der NS-Zeit wegen dieses doch eigentlich verfemten Stils nicht behelligt. Der Maler hatte sich der neuen Zeit rasch angepasst, wie sehr, das belegt das unverfänglich, brav-realistische Bildnis einer Oberlausitzer Bäuerin.
Und wie um den zeitlichen und den ästhetischen Bruch ab 1933 zu markieren, zeigt die Görlitzer Galerie der Moderne auch feingepinselte Blut-und Boden-Malerei: Ein blonder Knabe mit Speer vor einem Kornfeld, gemalt von Alfred Bernert aus Herrenhut bei Görlitz.
Nach 1945, als in der späteren DDR die Kunstzentren in Dresden, Leipzig und Ost-Berlin forciert wurden, war es still in der Görlitzer Szene, die Verbindung nach Breslau war gekappt, die meisten Akteure waren alt oder gestorben. Dennoch gab es noch einmal, weitab der nunmehr neuen politischen Kunst-Situation, die vor allem sozialistische Heldenbilder verlangte, noch einmal einen Auftrieb. Zum Kreis der Beharrlichen gehörte Dora Kolisch. Von dieser Görlitzerin hängt am Schluss des Rundgangs ein beklemmend surreales Waldbild, die „Holzsammlerin“ von 1957 und nahebei das exzessive „Liebespaar“ von Petzer Glomp, der in den 1970er-Jahren in der Oberlausitz gleichsam in die Innere Emigration gegangen war.
Mit einem abstrakt-romantischen „Altstadt“-Motiv macht Dagmar Stade-Schmidt Görlitz 2006 eine Liebeserklärung. Etliche andere, nach 1989 in die weite Welt gegangene Künstler der Stadt steuerten der Galerie Werke bei, auch Maler der Neuen Leipziger Schule. Und der Breslauer Lukasz Huculak deutet mit einem Becher-Motiv den Bezug zum alten Görlitzer Mystiker und „Ketzer“Jakob Böhme an.
Die Kunstszene Görlitz, von der die Galerie der Moderne berichtet, ist Vergangenheit. Heute zieht es die Künstler in die Metropolen, wo ihre Galerien, ihre Sammler sind. „Aber wir haben einen Traum“, sagt Kai Wenzel. „Trotz und gerade wegen der Randlage, so etwas wie ein Scharnier zu sein, zwischen Dresden, Leipzig – und Breslau.“